Gedanken für den 23. April 2020 - Verantwortung für andere

Was heißt Solidarität angesichts von Corona? Mein Eindruck ist, dass die Vorstellungen da sehr weit auseinandergehen. Ziemlich erschüttert war ich neulich, als ich in einer Zeitung die Forderung gelesen habe:

Ältere Menschen, die sich nicht selber schützen und die Hygieneempfehlungen nicht beachten, sollen die Kosten einer eventuellen Behandlung wegen Corona selber bezahlen!

Schließlich – so der Hintergedanke – sollen doch die Schutzmanßnahmen und all die gesamtgesellschaftlichen Einschränkungen vor allem dem Schutz der sogenannten Risikogruppen dienen. Und wenn sich alle schon so krass einschränken und so große persönliche und finanzielle Nachteile in Kauf nehmen, dann sollen die Angehörigen der Risikogruppen gefälligst auch selber schützen. So oder ähnlich verstehe ich die Argumentation.

Ich teile diese Meinung nicht!

Ich finde es erschreckend, wie angesichts von Corona Menschen paternalistisch zu Selbstschutz aufgefordert werden und ihnen vorgeworfen wird, sich unsolidarisch zu verhalten, wenn sie sich nicht schützen. Ist jemals in annähernd dieser Schärfe oder diesem Umfang Raucherinnen und Rauchern vorgeworfen worden, dass sie ihre selbst geschädigte Gesundheit auf Kosten der Solidargemeinschaft medizinisch behandeln lassen?

Eigenverantwortung erscheint mir auch und gerade in Zeiten der Corona-Krise wichtig zu sein. Insofern steht es mir nicht zu, zu beurteilen, ob ein Spaziergang, eine Besorgung oder Erledigung, ein Treffen z.B. für eine ältere Mitbürgerin wichtig oder unwichtig bzw. verschiebbar oder unverzichtbar ist. Zudem halte ich die Forderung, unvorsichtige Angehörige von Risikogruppen sollten eventuelle Behandlungskosten selbst tragen müssen, für inkonsequent. Denn wenn man das fordern darf, müsste man dann nicht erst recht von jedem Mitglied unserer Gesellschaft fordern, die entstehenden Kosten unseres Handelns, die im Moment zu Lasten von Menschen in den ärmeren Teilen der Welt oder zu Lasten der Umwelt geht, selbst zu tragen.

Es entspricht meinem Verständnis von solidarischer Gesundheitsfürsorge, dass ich zu einem Gesundheitssystem beitrage, das für all diejenigen da ist, die medizinische Hilfe brauchen. Egal warum. Und gerade den Angehörigen von Risokogruppen sollte ich jetzt besonders viel Rücksicht und Verständnis entgegenbringen. Schließlich ist es schon für mich schwierig und belastend, mich und andere zu schützen und gleichzeitig halbwegs unverdrossen Leben und Alltag fortzuführen. Wieviel schwerer und belastender mag es für Angehörige der Risikogruppen sein angesichts von größerer Bedrohung und unklarer Perspektive?

(Pfarrer Steffen Barth)